Als ich aufwachte, war es schon dunkel. Es war gerade mal 19 Uhr, aber schon stockfinster. Wie konnte das so schnell passieren? Als ich eingestiegen bin, war es doch noch sonnig und hell. Eigentlich wollte ich zu Fuß vom Busbahnhof zum Hostel laufen. Doch dann bekam ich plötzlich Panik in einer fremden Stadt abends mit meinem großen Rucksack alleine den Weg zum Hostel zu suchen. Das ging mir durch den Kopf als ich im Bus von Santiago nach Valparaiso saß. Ich merkte, dass der Raub seine Spuren hinterlassen hatte.
Der Bus hielt. Wir waren angekommen. Ich entdeckte zwei blonde Menschen im vorderen Teil des Busses. Blonde Menschen sind hier fast immer ebenfalls Reisende. Wie sich herausstellte, war es auch so. Ich fragte sie, wo sich ihr Hostel befindet und ob wir uns ein Taxi teilen wollen. Das hatte schonmal gut geklappt. Der Taxifahrer knöpfte uns zwar etwas zuviel Geld ab, aber ich stand unausgeraubt vor meinem Hostel. Nachdem ich erwartungsvoll auf den Klingelknopf drückte, erschien ein bärtiger Mann an der Tür. Ich sagte ihm, dass ich hier ein Bett gebucht habe. Er meinte daraufhin, dass kein Bett im Schlafsaal mehr frei ist. Und schwups, da war sie wieder, die kleine Panik, die sich von hinten an mich heranschlich. Doch dann nahm mir der bärtige Mann meinen Rucksack ab und brachte mich zu einem anderen Haus. Dort sagte der Besitzer, dass er da wohl was verwechselt hat mit meiner Reservierung. Kurz darauf bot er mir statt dem Schlafsaalbett ein Einzelzimmer zum selben Preis an, das ich dankend annahm. Zusätzlich bekam ich einen Stadtplan, auf dem er mir zeigte, was ich mir angucken kann und in welche Ecken ich besser nicht gehen sollte. Auch diese Informationen nahm ich gerne an, da bei dem Raub auch mein Lonely Planet-Reiseführer gestohlen wurde. Nach fast zwei Wochen in Mehrbettzimmern, war es sehr schön in einem eigenen Zimmer zu schlafen, das zudem auch noch ein flauschig warmes Federbett für die kalten Nächte hatte.
Ich war in Valparaiso, einer bunten, lebhaften Stadt an der Westküste Chiles. Auf einer Stadtführung lief ich durch verwirrende Gassen, entlang bunter Häuser, mit wunderschönen Graffiti und Bildern an den Häuserwänden. Es erschien mir wie ein Labyrinth voller phantasievoller und teilweise absurder Figuren und Muster. Die Stadt erstreckt sich bis hoch in die Berge. Viele bunte Treppenstufen oder alte Gondeln führen in die oberen Winkel der Stadt. Eigentlich sind Grafitti in Valparaiso verboten, erzählt das Mädchen, das die Leute durch die Stadt führt. Doch hier kann jeder sein Haus so gestalten und anmalen, wie es ihm gefällt. Das erinnert mich irgendwie an Pipi Langstrumpf und gefällt mir sehr gut.
Auf der Führung traf ich die beiden blonden Menschen wieder, mit denen ich mir ein Taxi geteilt habe. Kevin kommt aus den Staaten und Tara aus Australien. Sie reist und lebt schon seit 7 Jahren überall auf der Welt. Mit den blonden Menschen und einigen anderen Leuten, die an der Führung teilgenommen haben, traf ich mich später in einem Restaurant um wiedermal Bistec a lo pobre (Pommes mit Fleisch, Zwiebeln und Spiegeleiern) zu essen und dabei das Spiel Deutschland gegen Brasilien zu gucken. Alle waren ganz aus dem Häuschen als bereits in der ersten Halbzeit schon fünf Bälle in das brasilianische Tor flogen. In der Halbzeitpause wechselten wir in eine Bar und es hagelte ansxchließend noch mehr Tore. Ich war die einzige Deutsche in der Gruppe. Alle klopften mir begeistert auf die Schulter und wollten mit mir anstoßen. Klar, ich freute mich auch, ist ja schließlich mein Heimatland, das gerade so unfassbar haushoch gewonnen hatte. Letztendlich war es für mich aber hauptsächlich ein netter abend in einer Bar.
Ich blieb noch ein paar Tage in Valparaiso und in dem Einzelzimmer mit dem bequemen Bett. Stundenlang rannte ich durch die Stadt mit den bunten Häusern und machte Fotos mit meiner neuen Kamera. Dabei ging ich die ganze Zeit sehr zügig, damit ich keinen orientierungslosen Eindruck erweckte und nicht wieder wie das perfekte Raubopfer aussah Irgendwann kam ich an einem Friedhof vorbei. Friedhöfe in anderen Ländern finde ich sehr spannend. Da kann man sehen, wie die Leute in dem Land heißen, wie die Gräber geschmückt sind und die Trauerkultur in dem jeweiligen Land erahnen. Also ging ich hinein. Teilweise sehr pompös waren die Grabstellen dekoriert, mit kleinen Fotos und manchmal sogar Puppen und anderem Spielzeug. Auf einmal rief jemand meinen Namen. Es war Laurence aus Frankreich, die ich in Santiago im Hostel getroffen habe. Sie war mit zwei anderen Reisenden unterwegs und sagte, ich solle abends mit ins Restaurant kommen. Ich fand die Idee super und guckte mich weiter auf dem Friedhof um, während mich eine Katze begleitete. Als ich wieder gehen wollte, stellte ich fest, dass das Tor verschlossen war. Sofort schlich die Panik wieder in mir hoch. Ich malte mir schon aus, dass ich eine kalte Nacht auf einem gruseligen Friedhof in einer fremden Stadt, in einem fremden Land verbringen müsste. Auf der Straße vor dem Tor lief eine Frau vorbei. Ich rief „Hola, Hooolaaa!“ Doch sie hörte mich nicht oder wollte mich nicht hören, weil sie vielleicht dachte ich wäre ein Geist vom Friedhof. Einige Zeit später kam zum Glück der Friedhofmann. Er hatte mich gehört und schloss das Tor auf.
Der abend im Restaurant war sehr schön. Laurence saß mit einem Mädchen aus Ecuador und einem Jungen aus Frankreich bereits am Tisch, als ich hereinkam. Wir machten Witze darüber, dass ich statistisch gesehen nach dem Raub jetzt sicher wäre und mit Geldscheinen umherwedelnd durch die Straßen laufen könnte. Nach dem Essen fuhren Laurence und das Mädchen aus Ecuador weiter in Richtung Norden. Ich wäre gerne mit ihnen gefahren, aber ich musste wieder zurück nach Santiago, um einen richtigen Pass zu beantragen. Mein Work & Travel-Visum für Neuseeland gilt nämlich nicht mit meinem vorläufigen Pass. Irgendwie verflixt. Santiago will mich einfach nicht so richtig gehen lassen.
Der Besitzer des Hostels, in dem ich schlief, hat mich an einem abend zum Essen mit den anderen Hostelmitarbeitern eingeladen und mich überredet noch einen Tag länger zu bleiben, als ich eigentlich geplant hatte. Ich wechselte für die letzte Nacht ins Mehrbettzimmer des anderen Hauses und erkundete weiter die Stadt. Am abend lernte ich die Austauschstudenten kennen, die dort schon für längere Zeit wohnten. Am nächsten morgen frühstückte ich mit zwei Mädels aus der Schweiz und fuhr mit ihnen im Trolebús zum Busbahnhof. Dort nahm ich den Bus zurück nach Santiago, sie fuhren, genau wie Laurence und das Mädchen aus Ecuador, weiter nach Norden in Richtung Atacamawüste.
